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(Ambiguitäten der) Kollektivität

Konzept und Materialisierung

Carolin Wiedemann verwendet den Begriff 'Kollektivität' "im Rahmen der Überlegungen zu einer Open Collectivity" (Wiedemann 2016, S. 134) nicht "als Platzhalter für 'Gemeinschaft' […], sondern als Teil einer neuen Begriffskonstellation." (ebd., S. 134)

Während sich bei Hardt, Negri und Virno mit der Theorie der Multitude ein Konzept von Kollektivität finden lasse (vgl. ebd., S. 133) – als deren Basis die Produktion des Gemeinsamen beschrieben werde (vgl. ebd., S. 136), identifiziert Wiedemann Anonymous als Materialisierung jenes Konzepts – "ist Anonymous doch eine Kollektivität, die auf Kommunikationstechnologien basiert". (ebd., S. 134)

Kollektivität wird von Wiedemann so auf zunächst zweierlei Weisen begriffen, zum einen als Konzept und zum anderen als spezifische Materialisierung des Konzepts.

Zählbar und Unzählbar

In seiner Materialisierung scheint Wiedemann Kollektivität nicht eindeutig nur als zählbar, als bspw. Körper/Gruppe/Ansammlung oder als unzählbar, als Zustand, Vollzug oder Eigenschaft des Gemeinsamen/Kollektiven zu bestimmen.1

Auch wenn es einleitend heißt, Anonymous sei kein Verein, der sich durch seine Mitglieder definieren lasse, keine Organisation, deren Existenz auf einer Satzung und entsprechenden Aufgaben basiere, keine Institution, deren Struktur feststehe, Anonymous sei auch keine Hackergruppe, wie es in den Zeitungen stehe, Anonymous sei keine Gruppe (vgl. ebd., S. 133), wird Anonymous dennoch als unterscheidbare und handlungsfähige Entität gezeichnet:

"Anonymous gibt sich aus als eine Kollektivität ohne Anführer_innen, an der alle Menschen gleichermaßen teilhaben können." (ebd., S. 135) Anonymous wolle "eine Open Collectivity […] sein, eine offene dezentral organisierte Kollektivität, an der alle teilhaben können, in der es keine Herrschaftsverhältnisse gibt." (ebd., S. 135)

Wenn es zuvor noch hieß, Anonymous wolle "eine Open Collectivity […], eine offene dezentral organisierte Kollektivität" [Herv. d. Verf.] (ebd., S. 135) sein, wird die Ambiguität von Kollektivität in der Frage sichtbar: "Wie entsteht Kollektivität jenseits der Konstitution über Repräsentation, jenseits identitärer Zusammenschlüsse?" (ebd., S. 136) Wiedemann fragt hier nicht danach, wie eine konkrete Kollektivität bestimmt werden kann, sondern wie ganz allgemein Kollektivität als Vollzug entsteht.

Sowohl für das herangezogene Konzept von Kollektivität, der Multitude, als auch für die exemplarische Materialisierung dessen, Anonymous, benennt Wiedemann eine Bedingung ("Basis"). Während es für die Multitude die Produktion des Gemeinsamen sei (vgl. ebd., S. 136), seien es für Anonymous Kommunikationstechnologien. (vgl. ebd., S. 134)

Die Multitude und Anonymous haben damit gemein, schließt Wiedemann, dass das Gemeinsame durch den Austausch von Geschichten, durch die Kommunikation und das Teilen der Erfahrungen geschaffen werden solle. (vgl. ebd., S. 137) In diesem Vollzug, dem Austausch, der Kommunikation und dem Teilen findet sich nun die zweite und unzählbare Bedeutung von Kollektivität:

Während Anonymous eine Kollektivität sei, ist Austausch, Kommunikation und das Teilen im Vollzug Kollektivität.

Wiedemann schlägt als Definition von Kollektivität vor: "in der Verbindung, in dem Moment, in dem sich Elemente zusammenfügen, haben sie gemeinsam Agency, also die Fähigkeit, eine Handlung zu initiieren, die einen transformatorischen Effekt hat (Latour 2005: 53)." (ebd., S. 40) und schreibt im Aufsatz 'Between Swarm, Network, and Multitude – Anonymous and the Infrastructures of the Common':

People who did not know each other, who just gathered on 4chan, became Anonymous, a collectivity that was not based on a common political agenda or a collective identity, but on an assembling of individuals that had agency in the sense of an ability to perform action that has a transforming effect (see Latour 2005: 53f.). […]

A phenomenon such as Anonymous, however, demands that we focus exactly on the operative level of the constitution of collectivity, the potential agency that turns the random gathering of people into a temporary community.

-- (ebd., S. 152)

Technologien des Gemeinsamen / Herstellung von Kollektivität

Im Anschluss an Thacker schreibt Wiedemann, dass sich hinsichtlich der Multitude die scheinbar unbeantwortbare Frage stelle, wie dieses Gemeinsame unter Wahrung der Differenz hergestellt werden könne (vgl. ebd., S. 138). Zum Einen findet sich aber auch bei Thacker zumindest eine Annäherung an die Antwort auf die Frage nach dem wie, denn wenn Thacker schreibt, dass die Multitude immer »quer« zu ihren eigenen Voraussetzungen zu stehen scheine, denn sie konstituiere eine soziale und politische Ordnung und widerstehe dieser gleichzeitig (vgl. Thacker 2009, S. 58), ist es der Widerspruch, der das Gemeinsame motiviert. Zum Anderen wird aus Wiedemanns Beobachtung weniger deutlich, dass das Gemeinsame der Multitude nicht nur unter Wahrung der Differenz hergestellt werde, sondern, so Thacker im Bezug auf Negri, die Multitude "[e]ine Mannigfaltigkeit [multiplicity] von Singularitäten, eine Differenz, die eine Wiederholung ist, eine Kontraktion und eine Expansion, eine Systole und eine Diastole" (ebd., S. 60) sei. Die Kollektivität (der) Multitude zeichnet sich also nicht nur dadurch aus, Differenz in der Herstellung des Gemeinsamen zu wahren, sie ist selbst bereits different.

Im Rückgriff auf Soenke Zehle's Technologies du Commun und Zehle's und Ned Rossiter's Organizing Networks, bespricht Wiedemann die Performativität2 von Anonymous und stellt fest:

Es gibt Anonymous nicht jenseits vom Austausch in den digitalen Netzwerken, nicht jenseits vom Erleben des Gemeinsamen in der Kommunikation und den Aktionen der Menschen mit Guy Fawkes-Masken, zu denen im Netz kurzfristig aufgerufen wird. (Wiedemann 2016, S. 139)

Auf Zehles' und Rossiters' "technology is not social because it supports the organization of social movements, but because it affects the constitution of the social" (Zehle 2008, S. 250) folgt bei Wiedemann: "Anonymous ist gleichzeitig die Idee einer Kollektivität und jene Kollektivität, die sich allein im Vollzug realisiert, durch die anonyme Kommunikation, in der das Gemeinsame produziert wird." (Wiedemann 2016, S. 139)

Wiedemann wendet Zehles' und Rossiters' reziproke Beziehung zwischen form und expression 3 auf Anonymous an - "Die Form (Netzwerk, Schwarm) und der Ausdruck (die Produktion des Gemeinsamen, Multitude) von Anonymous bedingen sich wechselseitig" (ebd., S. 139) - und schließt nach einem Rekurs auf die "genealogischen Linien des mediums, das im Lateinischen eine Mitte benannte, die einen offen-vagen Begriff von Öffentlichkeit, von öffentlichem Raum, vom Gemeinsamen nahe legt" (ebd., S. 139), die bei Deleuze und Guattari ein reißender Strom sei, eine Fluchtlinie, in der sich alles beschleunige, in der sich die Verkettung der Singularitäten als und ereigne (vgl. Raunig 2007 zit. nach Wiedemann 2016, S. 139):

Offene, nicht-repräsentationistische Kollektivität ereignet sich, wenn Form und Ausdruck der Kollektivität sich und damit die Kollektivität wechselseitig als Bewegung kommunikativ und kooperativ konstituieren. (ebd., S. 139 f.)

Leseempfehlung

die Kollektivität der Kollektivität Open Collective

Fußnoten


  1. So wie etwas eine (bestimmbare) Aktivität sein kann (Lesen, Schreiben, Denken, Spielen, Unterhalten = bestimm- und unterscheidbare Aktivitäten) oder (unbestimmte) Aktivität ausgemacht werden kann ("Ich konnte dort gestern (insgesamt) eine höhere Aktivität feststellen als vorgestern.").
  2. "In den Konstitutionsprozessen von Anonymous ist eine operative Logik, die auf der Technizität oder Affektivität basiert, einer Logik der Repräsentation immer einen Schritt voraus. Erst in der Bewegung, im anonymen Austausch, im Verbinden, das zum Berühren wird, entsteht das wir performativ." (Wiedemann 2016, S. 117)
  3. "Form enables a structure of expression just as expression defines the borders of form." (Zehle 2008, S. 250)
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Last updated on 3/21/2022